Die Fastentücher
Fastentuch "Der Abschied Jesu von seiner Mutter Maria" in der hinteren linken Seitenkapelle.
Großes Fastentuch "Die Kreuzigung" am Hochalter.
Fastentücher haben im Alpenraum eine bis in das Mittelalter zurück reichende Tradition. Altäre wurden für die Dauer der Passionszeit mit Tüchern verhängt und damit dem Blick der Gläubigen entzogen. Auch das Auge sollte fasten und in den vierzig Tagen vor Ostern der Pracht der Altäre entsagen. In einer Zeit, zu der die wenigsten Menschen lesen und schreiben konnten, erfüllten die Fastentücher zugleich die Funktion einer „Bilderbibel“, die in ihren Darstellungen die Passion Christi erzählte.
Auch in Irsee pflegte man den Brauch der Fastentücher. Bis in die 1960er Jahre waren neun Tücher in die Passionsliturgie eingebunden gewesen. Dann gerieten sie in Vergessenheit und verschwanden zusammengerollt in Kirchenbänken. Dort ruhten sie bis zum Herbst 2000 als sie vom ehemaligen Kirchenpfleger Willibald Müller wiederentdeckt wurden. Mit Hilfe der Ernst-von-Siemens-Kunststiftung konnten die wertvollen Stücke vor dem Verfall gerettet und 2007 erstmals wieder der Öffentlichkeit gezeigt werden.
Neun unterschiedliche Szenen
Eine Besonderheit stellt der vollständige Erhalt aller Tücher zu einem Zyklus dar. Die verhüllten Altäre können wie auf einem Kreuzweg abgeschritten werden. Sie zeigen die Szenen: Der Abschied Jesu von seiner Mutter Maria, Ölberg, Judaskuss, Gefangennahme, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuztragung, Kreuzigung und Kreuzabnahme.
Die neun, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Tücher haben – der Größe der Altäre entsprechend – unterschiedliche Formate. Das Hochaltartuch mit der „Kreuzigung“ besitzt die monumentale Größe von ca. 7 m Höhe und 3 m Breite. Der vermutete Künstler Pater Magnus Remy, der auch das Hochaltargemälde sowie die Decken- und Emporengemälde in der Klosterkirche von Irsee schuf, könnte in den Details zu finden sein.
Nur noch 170 Tücher im Alpenraum
Fastentücher, auch Hungertücher genannt, wurden schon im Mittelalter aufgehängt. Bis zu 100 qm groß, verhüllten diese damals den gesamten Chorraum. Im 11. und frühen 12. Jahrhundert waren sie zunächst vollkommen schmucklos, nur mit einem aufgemalten oder gestickten Kreuz verziert. Ab dem 12. Jahrhundert wurden die Tücher bzw. Vorhänge dann bildnerisch gestaltet. Auf ihnen war eine Abfolge mehrerer Einzelszenen aus dem Alten und Neuen Testament – am Ende mit der Passionsgeschichte dargestellt.
Im 18. Jahrhundert setzte sich der „einszenige Fastentuch-Typus“ durch. Nun verhängte man, wie z. B. in der Kirche von Irsee, sämtliche Altarretabeln mit Tüchern. Mit der Säkularisation verschwand dieser Passionsbrauch aus den meisten Kirchen. Nicht anders ist zu erklären, dass von ehemals über 1000 Tüchern im alpenländischen Raum heute nur noch ca. 170 – größtenteils in liturgischem Gebrauch – erhalten sind.
Fastentuch "Die Dornenkrönung" in der linken Seitenkapelle.
Ein einzigartiger Kunstschatz
katholisch 1tv/youtube 2016